Aggressionen und Autoaggressionen



Hier werde ich später noch verschiedene Aspekte, Hintergründe und Theorien zu aggressivem und autoaggressivem (selbstverletzendem) Verhalten ergänzen.
Erste Informationen zum Umgang mit Wutanfällen bei Kindern finden sie hier.

Zunächst jedoch möchte ich folgenden Text einer jungen Frau mit Asperger Syndrom vorstellen, der innerhalb eines Austausches per E-Mails entstanden ist. Auch die Grafiken stammen von ihr:




Aggressionen, Autoaggressionen, Regeln und Grenzen


- Fragen einer verzweifelten Mutter -

"Warum schlägt sich mein Sohn ständig selber, warum tut er sich das an?"

"Warum hört er damit nicht auf, wenn ich sage, er soll es lassen?"

"Warum fängt er an seine kleine Schwester zu schlagen, wenn wir Besuch haben, warum hält er sich nicht daran, wenn ich sage, er soll es bleiben lassen, es tut ihr weh?"


- Schlussfolgerung einer resignierenden Mutter -

"Ich kann mich nirgends mit ihm mehr sehen lassen. Ich verstehe sein Verhalten nicht, und die Nachbarn und Mitschüler haben noch viel weniger Verständnis dafür. Ich muss seine Schwester vor ihm schützen."




Mangelt es in unserer Welt, in der inzwischen Autismus kaum mehr ein Fremdwort ist, wirklich an Verständnis? Oder vielmehr am Verstehen dessen, was in einem Menschen mit Kanner- bzw. Asperger-Autismus vor sich geht?

Daher halte ich es für wichtig, den Menschen mit Autismus, die sich, ob redend oder schreibend, ob tippend oder gestützt, mitteilen können zu lauschen, ihnen bei der Beschreibung ihrer Wahrnehmung und ihres Erlebens zuzuhören.

...um gemeinsam eine Welt zu basteln, in der sich sowohl Menschen ohne Autismus als auch Menschen mit Autismus wohlfühlen können, ohne dass sie nur ge- und erduldet und ausgehalten werden.



Daher möchte ich kurz aus meiner Erlebenswelt berichten:







Aggressionen und Autoaggressionen:

"Trinkst du zu viel Kaffee?" war die Frage einer inzwischen sichtlich genervten Kommilitonin, als ich mal wieder, mich selber schlagend, in der Vorlesung an der Uni saß.

Ich beschränkte mich auf ein ausweichendes, langgedehntes "Oooooch", denn wie sollte ich ihr eben mal so schnell erklären, was gerade in mir vorging? Vorne am Katheder joggte der Dozent hin und her, hinter mir tuschelten zwei Mädchen, draußen wurde der Rasen lautstark gemäht, schräg hinter mir wählte jemand in seinem Rucksack, die Kommilitonin vor mir aß lautstark Gummibären und knisterte mit ihrer Tüte, und als wäre das alles nicht schon genug, flackerte über mir auch noch die Neonröhre.


Alles in allem viel zu viel, ich ertrank in einem Meer aus Geräuschen und Reizen, ich hatte das Gefühl, alles bricht über mich wie eine Tsunami herein und dringt ungefiltert in mich ein - ich wollte nur noch weg. Alles 'Energien', die auf mich einstürzten, ich lief voll wie ein Regenfass, ich lief über, nur wo sollte ich mit all der Energie hin?


Grafik v. Sterne: vor braunem Hintergrund tosendes Meer, darüber Gewitterwolke mit Blitz. Ein Schiff mit gebrochenem Mast ist dem ausgeliefert.


Das war mein "Blitzableiter".
Früher, als ich kleiner war, schlug ich mit dem Kopf auf den Boden oder gegen die Wand. Ich brauchte das Gefühl des kratzigen Teppichs oder der Rauhfasertapete an meiner Stirn. Das war beruhigend.

Mein Vater ließ mich links liegen, er dachte, ich habe meine fünf Minuten und würde von selber wieder aufhören. Meine drei Jahre jüngere Schwester hingegen sorgte sich. Sie kam, setzte sich neben mich, sprach mich an, versuchte mit mir zu reden, doch ihre Worte erreichten mich in meinem übergelaufenen Zustand gar nicht mehr, mit ihren vielen Worten machte sie es nur schlimmer. Und ich konnte es ihr nicht sagen, ich war längst im Ausnahmezustand und konnte nur noch schlagen. - Sie fühlte sich ohnmächtig und war verzweifelt.

Zum Glück kamen diese Ausraster selten vor.

Daheim wurde toleriert, dass ich mich zurückzog, auf Bäume kletterte, irgendwo im Garten verschwand oder einsame Radtouren machte, in der Schule nannte man mich "stummer Fisch", und tolerierte es.

Mein Vater, selber zwanghaft veranlagt, kam mir mit seinem strengen Zeitplan und seiner mangelnden Spontanität entgegen, er erduldete selber nichts Lautes und so herrschte daheim oftmals Grabesstille - eine Atmosphäre, in der ich mich wohlfühlte und in der es somit selten Anlass gab, auszurasten.


Nun bin ich erwachsen, ausgezogen, lebe selbstständig in einer eigenen Wohnung. Es ist, als sei ich aus dem Nest gefallen, raus in eine chaotische, laute Welt, in der die Menschen umherwuseln wie Ameisen auf einem Ameisenhaufen, in der sich alles sekündlich unvorhersehbar und unvorhersagbar ändert.

Lichter gehen an und aus, Menschen laufen hin und her, Energie stürzt unaufhaltsam auf mich ein.

Ich brauche ständig meinen "Blitzableiter", schlage mich dementsprechend oft inzwischen, die Autoaggressionen haben zugenommen, auch die Aggressionen, denn ich kann die Welt nicht einfach so dahingehend ändern, dass ich mich wohlfühle.

Nur daheim, in meinen vier Wänden, meiner Wohnhöhle, finde ich Ruhe und zu mir selber. Ohne mich zu schlagen.


Es hat etliche Jahre gebraucht bis ich erkannte, warum ich mich schlug, bis ich die Zusammenhänge herausfand.







Regeln und Grenzen:

Ein für mich leidiges Thema.

Ich halte mich stur und fanatisch gerne an Regeln.

Jedoch fällt es mir schwer, diese dann situationsgemäß anzupassen. Und in dem steten Bemühen, es ja richtig zu machen, weil ich ja keine Regeln brechen möchte, geht es dann erst recht schief, da Regeln, so steif sie sich anhören mögen, etwas flexibles sind.

Regeln scheinen Richtgrößen zu sein, doch wann man sie und vor allem wie abändern muss, das fällt mir schwer zu erkennen.


Ich komme mir immer vor wie im Winter, wenn ich auf einen zugefrorenen See gehen möchte. Ich taste mich vorsichtig mit der Fußspitze vorwärts um zu schauen, bis wo das Eis mich noch trägt und wo Stopp ist. Das Stopp würde bedeuten, dass dort eine Grenze ist (doch 90% der Kommunikation geschieht nonverbal - wie soll ich dann und vor allem so schnell nonverbale Stopps und Grenzsetzungen erkennen und dementsprechend reagieren, wenn ich sie gar nicht erst erkennen kann?) oder ich habe bereits früher schon einmal - oft schmerzhaft - spüren müssen, dass dort eine Grenze ist. Ich habe es bereits gelernt.


Grafik v. Sterne: Ein unbekleideter Fuß geht über Eis auf eine Bruchstelle zu. Davor hält eine Hand eine rote Halt-Kelle empor.


Aus diesem Lernen folgt sofort eine unumstößliche Regel, an die ich mich dann halte, egal ob das nun passend ist oder nicht, und es führt zu kompletter Verwirrung, wenn dann Situationen auftauchen, in denen man sich anders verhalten muss oder diese Regeln eben ausnahmsweise mal nicht gelten.

Nur wie lernt man die Ähnlichkeit von Situationen erkennen, um gelernte Regeln und Verhaltensweisen zu übertragen, bzw. wie lernt man erkennen, dass man sich in einer Situation befindet, in der die bereits gelernte Regel ausnahmsweise nicht oder nur in abgeänderter Form gilt?



© Sterne 2003






Eine Selbsthilfe-Website für Menschen, die sich selbst verletzen und ihre Angehörige finden Sie hier: http://www.versteckte-scham.de/


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