KISS-Syndrom
Immer wieder wird Eltern geraten, ihre in irgend einer Form auffälligen Kinder auf das Vorliegen eines “KISS-Syndroms” untersuchen zu lassen oder gelegentlich wird dessen Vorliegen sogar per Ferndiagnose einfach unterstellt. Im Zuge dessen werden oftmals ärztliche Diagnosen, wie zum Beispiel AD(H)S, verworfen und ärztlich verordnete Behandlungen abgebrochen.
Was bedeutet der Begriff KISS-Syndrom überhaupt?
Ist es sinnvoll, einer solchen Verdachtsäußerung nachzugehen?
Und wie sieht die Behandlung in diesem Fall aus?
Um diese Fragen zu klären, möchte ich Ihnen diese
Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie e.V. empfehlen:
Kommission zu Behandlungsverfahren bei Entwicklungsstörungen und zerebralen Bewegungsstörungen
D. Karch, E. Boltshauser, G. Groß-Selbeck, J. Pietz, H.-G. Schlack
Manualmedizinische Behandlung des Kiss-Syndroms und Atlastherapie nach Arlen.
http://www.neuropaediatrie.com/aerzte/Stellungnahme/Kiss%20und%20Arlen%20neu..pdf
sowie den folgenden
Artikel des Kinderorthopäden Dr. med. Ralf Stücker
vorstellen, der Ende 2000 in der Zeitschrift “Pädiatrie hautnah” erschien. [in kursiver Schrift eingeschobene Bemerkungen habe ich eingeflochten, um den Text für Laien besser verständlich zu machen]:
DAS KISS-Syndrom – Fakt oder Fiktion?
Wenige Wortschöpfungen haben in der Medizin so eingeschlagen wie die Abkürzung „KISS“ – Kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung, die nach Ansicht einiger Manualmediziner durch eine Blockierung des Kopfgelenkes C1/2 [also der obersten beiden Halswirbel] verursacht wird. Die Blockierung – angeblich für verschiedene Störungen verantwortlich – soll durch eine Röntgenaufnahme, die den Dens axis [den “Zahnfortsatz”, also eine Art vorragender Zapfen des zweiten Halswirbels] gegenüber dem Atlas [dem obersten Halswirbel] verschoben zeigt, objektivierbar sein. Ursache sei ein traumatischer Geburtsvorgang.
Dazu einige Anmerkungen aus kinderorthopädischer Sicht.
Symmetriestörungen des Säuglings sind durchaus keine Erfindung von Manualmedizinern. Krankengymnasten, Kinderärzte und Orthopäden kennen solche Haltungsanomalien sehr wohl. In wenigen Fällen können sie sogar zu ernsthaften Problemen, z.B. zur Entwicklung einer Hüftdysplasie, beitragen. Wir beschreiben eine solche frühkindliche Haltungsanomalie als Schräglagedeformität.
Eine Schräglagedeformität ist durchaus nicht selten. In unserer kinderorthopädischen Abteilung werden uns pro Woche mindestens zwei bis drei Kinder mit mehr oder weniger stark ausgeprägter Schräglage vorgestellt. Die meisten dieser Kinder sind per Sektio [Kaiserschnitt] entbunden worden, so dass kein traumatischer Geburtsvorgang stattgefunden hat.
Die Ursache der nachzuweisenden Assymmetrie ist vielmehr eine intrauterine Zwangslage [also eine eingeengte, verkrümmte Stellung des Kindes innerhalb der Gebärmutter], die zu einer einseitigen Verkürzung der Rumpf- und Halsmuskulatur geführt hat, wie sie in fast jedem Fall nachzuweisen ist. Die Schräglagedeformität macht sich klinisch [d.h. ärztlich feststellbar] durch eine Rumpfneigung zu einer Seite bemerkbar. Auf der Konkavseite [das ist diejenige, die nach innen gebeugt ist] steht das Becken höher, sodass der Eindruck einer Beinlängendifferenz entsteht. Gewinnen die Kinder die erste Kopfkontrolle, versuchen sie, die Verkürzung der Halsmuskulatur auszugleichen. Dann wird der Kopf als Ausgleich für die gesamte C-förmige Rumpfverbiegung zur Seite der Konkavität[der nach innen gebeugten Seite] geneigt und zur Konvexität [der nach außen gewölbten Seite] gedreht.
Warum ist nun der Dens axis auf den Röntgenaufnahmen dezentriert [nicht genau in der Mitte, dem Zentrum stehend]? Handelt es sich dabei um eine Blockierung? Aus Erfahrung vieler Operationen an der kindlichen Halswirbelsäule lässt sich sagen, dass eine Blockierung im Bereich der oberen Halswirbelsäule im Säuglingsalter nicht möglich ist.
Versucht man im Rahmen von Operationen beide oberen Halswirbel gegeneinander zu bewegen, gleiten die hyalinen [glasigen, sehr glatten] Gelenkflächen wie auf Schmierseife, wobei die Gelenke einen großen Bewegungsspielraum haben. Die Dezentrierung des Dens ist lediglich Folge der kompensatorischen Rotation [also Folge des Versuches, die Muskelverkürzung durch die Körperdrehung auszugleichen].
Im Rahmen der Entwicklung einer jeden Skoliose [nach seitwärts gerichtete dauerhafte Verkrümmung der Wirbelsäule, Skoliose siehe auch hier] gibt es oberhalb und unterhalb einer Primärkrümmung [der ursprünglichen, der Hauptkrümmung] Sekundärkrümmungen [daraus folgende und diese ausgleichende Nebenkrümmungen] in die Gegenrichtung.
Bei der Schräglagendeformität ist jedoch die Halswirbelsäule in eine große C-förmige Krümmung einbezogen. Eine Gegenkrümmung oberhalb der Halswirbelsäule ist natürlich nicht möglich. Als Ersatz für diese Gegenkrümmung entsteht deshalb eine Gegenrotation im Segment C1/2. Diese Gegenrotation ist im Röntgenbild als dezentriert stehender Dens axis nachzuweisen. Neigt man den Kopf im Rahmen einer röntgenologischen Untersuchung in die Konkavität, ist diese Gegenrotation nicht mehr nachzuweisen und der Dens axis steht zentriert.
Die Schräglagedeformität ist eine ausgeprägte Manifestation [Sichtbarwerdung, Erkennbarwerdung] einer Asymmetrie [eines nicht auf beiden Seiten genau gleichen Körperbaues] , die in geringerer Ausprägung im Säuglingsalter relativ häufig vorkommt. Ursache ist unter anderem der in den ersten Monaten persistierende [bestehen bleibende] asymmetrische tonische [durch anhaltende Muskelanspannung gekennzeichnete] Nackenreflex (ATNR).
Bei regelrechter Entwicklung verschwindet dieser Reflex jedoch spontan [ohne jede Behandlung auf natürliche Weise] und damit häufig auch die asymmetrische Haltung der Kinder.
In einzelnen Fällen (einseitige Lagerung und Handhabung der Säuglinge) kann der asymmetrische tonische Nackenreflex im Säuglingsalter bestehende Asymmetrien jedoch deutlich negativ beeinflussen, sodass tatsächlich auffällige Schräglagedeformitäten entstehen, die der konservativen Behandlung durch eine krankengymastische Behandlung auf neurophysiologischer Grundlage bedürfen. Dass im Rahmen der Entstehung einer solchen Deformität gelegentlich auch einmal manualmedizinisch nachweisbare Probleme entstehen, ist denkbar. Solche Störungen sind jedoch immer sekundär und werden durch die krankengymnastische Behandlung in idealer Weise therapiert.
Verkürzte Muskulatur bedarf einer adäquaten [angemessenen, ihr gerecht werdenden] Dehnung und einer Stimulierung [Anregung] der Antagonisten [der Gegenspieler - jeder Muskel hat einen Gegenspieler, der für die Bewegung in die entgegengesetzte Richtung zuständig ist], um wieder eine regelrechte Funktion zu erreichen. Deshalb ist unbegreiflich, warum nach einer manualmedizinischen Behandlung die Krankengymnastik ausgesetzt werden soll.
Der muskuläre Schiefhals, der angeblich durch eine Atlastherapie geheilt werden kann, ist nicht mit einer Schräglagedeformität gleichzusetzen. Hier handelt es sich um eine einseitige Fibrosierung [eine Gewebeveränderung] des M. sternocleidomastoideus [das ist der “Kopfwender” genannte Muskel im Hals], wobei die Ätologie [die Ursache für die Erkrankung] nicht sicher geklärt ist.
Ich persönlich habe noch keinen Fall gesehen, in dem sich ein muskulärer Schiefhals durch Manualtherapie (Atlastherapie) hätte bessern lassen. Der muskuläre Schiefhals hat dann eine gute Prognose, wenn im ersten Lebensjahr eine Beseitigung der Muskelkontraktur [Versteifung, Beweglichkeitseinschränkung] gelingt. Auch für diese Erkrankungen gibt es keine gute Alternative zu einer fachgerecht durchgeführten krankengymnastischen Behandlung auf neurophysiologischer Grundlage.
Das Problem beim „KISS-Syndrom“ besteht nicht in der Behandlung, sondern in der Tatsache, dass Kindern ein Etikett zugeordnet wird, welches zu einer Kategorisierung führt, die möglicherweise eine weitere Diagnostik verzögert. Persistierende [weiterbestehende] Asymmetrien haben häufig handfeste Ursachen, z.B. Säuglingsskoliosen [durch die Lage in der Gebärmutter entstandene Verkrümmungen der Wirbelsäule beim Säugling], kongenitale Skoliosen [genetisch bedingte seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule, durch unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeiten an den beiden Seiten der Krümmung fortschreitend] , Klippel-Feil-Syndrom [hier sind einige Halswirbel miteinander verschmolzen], Sprengelsche Deformität [Schulterblatt-Hochstand], um nur wenige zu nennen. In solchen Fällen ist deshalb zunächst eine Abklärung erforderlich. Eine Röntgenaufnahme des okzipitozervikalen Übergangs [des Übergangsbereiches vom Hals in den Hinterkopf] a.p. ist für eine Diagnostik kongenitaler Anomalien [angeborener Fehlbildungen] in diesem Bereich nicht geeignet. Neben dem Begriff KISS-Syndrom muss deshalb auch die von vielen Manualtherapeuten propagierte Röntgenaufnahme a.p. abgelehnt werden, da sie eine nicht unbeträchtliche Strahlenbelastung der Orbita [Augenhöhle] erzeugt.
Fazit:
Durch den Begriff KISS-Syndrom wird die Kausalkette [die Kette logisch begründeter Schlussfolgerungen] umgedreht. Die Rotationsstellung der Kopfgelenke ist immer Folge einer Asymmetrie und als Kompensationsmechanismus aufzufassen.
Die Kritik richtet sich nicht gegen die Manualtherapie allgemein, die in geeigneten Fällen gute Erfolge haben kann. Im Kindesalter beispielsweise kann bei Kindern mit Zerebalparese [eine durch Verarbeitungsstörungen im Gehirn verursachte Bewegungsstörung, verschiedene Arten möglich] die Atlastherapie mit gutem Erfolg zur Detonisierung [Herabsetzung der dauerhaft zu hohen Muskelspannung] eingesetzt werden. Die unter der Etikette KISS-Syndrom durchgeführte Röntgenuntersuchung und Behandlung der Kopfgelenke unzähliger Säuglinge und Kleinkinder sind nach heutigem Kenntnisstand jedoch in keiner Weise gerechtfertigt.
©
PD Dr. med. Ralf Stücker
Leitender Arzt
Abteilung Kinderorthopädie
Altonaer Kinderkrankenhaus
Bleickenallee 38
22763 Hamburg
erschienen in:
pädiatrie hautnah 12/2000
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Weiterführende Informationen zur Atlastherapie nach Arlen finden Sie hier:
Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie e.V.
Kommission zu Behandlungsverfahren bei Entwicklungsstörungen und zerebralen Bewegungsstörungen
http://www.neuropaediatrie.com/fileadmin/user_upload/pdfs/Kiss_und_Arlen_neu..pdf
Zusammenfassender Bericht des Arbeitsausschusses "Ärztliche Behandlung" des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beratungen gem. 135 Abs.1 SGB V, 24.09.2002
http://www.g-ba.de/downloads/40-268-239/HTA-Arlen.pdf.pdf
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