Autismus – Asperger Syndrom

Kurzinformation



Autismus ist eine "tiefgreifende Entwicklungsstörung", die sich in einer angeborenen unheilbaren Mehrfachbehinderung äußert.
(ICD-10: F 84)
Als Komorbiditäten kommen nicht selten weitere Behinderungen hinzu.
Autismus ist mit etwa 60 Betroffenen unter 10.000 Menschen etwa so häufig wie Blindheit oder Gehörlosigkeit und tritt weltweit in allen sozialen Schichten auf.
Die autistische Behinderung beruht auf einer veränderten Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung des Gehirns.
Die Eindrücke aus den Sinneswahrnehmungen werden dabei beispielsweise zu stark, zu schwach, verzögert, nur teilweise oder bruchstückhaft oder auf wechselnde, schwankende Art verarbeitet.
Dies betrifft alle Sinnesorgane.

Autistische Menschen konzentrieren sich vorwiegend auf Details. Sie haben große Probleme, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun oder zu erfassen. Um einen Gesamteindruck von einer Sache oder einer Situation zu erhalten, müssen sie diese vielen einzelnen Detailwahrnehmungen ähnlich einem Puzzle zunächst zusammensetzen und dann logisch analysieren.

Aus diesen Gründen erleben, deuten und bewerten autistische Menschen ihre Umwelt anders als nicht Behinderte.
Sie empfinden ihre Umgebung und ganz alltägliche Situationen oft als chaotisch oder auch bedrohlich.
Das kann zu Veränderungsängsten, Panikreaktionen, völligem Rückzug in sich selbst, Sprachlosigkeit, zu impulsiven Wutausbrüchen und/oder zu anderen Verhaltensauffälligkeiten führen.
Häufig beschäftigen sie sich stereotyp mit Gegenständen oder Bewegungsmustern, die ihre Sinne stimulieren oder sie beruhigen.
Auch neigen sie zu zwanghaftem und/oder ritualisiertem Verhalten, um so das wahrgenommene Chaos für sich zu ordnen.

Menschen mit autistischer Behinderung können aufgrund ihrer andersartigen Wahrnehmungsverarbeitung auffallen
durch ungewöhnliche und/oder eintönige Essgewohnheiten oder auch die Neigung dazu, sogar nicht Essbares essen zu wollen,
durch vielleicht unmodische, aber ihnen bequeme Kleidung, die nicht immer an die Außentemperatur angepasst ist,
durch besondere Lichtempfindlichkeit oder Farbempfindlichkeit,
hohe Geräuscheempfindlichkeit (was nicht ausschließen muss, dass sie selbst laute Geräusche produzieren),
durch minimalistische Körperpflege,
vermindertes, erhöhtes oder anders ungewöhnliches Schmerzempfinden
( was zu besonderer Sorgfalt im Umgang mit einem Verdacht auf körperliche Erkrankungen oder Verletzungen verpflichtet, da wichtige Symptome sich anders darstellen oder übersehen werden können!)
oder durch andere befremdlich scheinende Verhaltensweisen.

Autistische Menschen wirken oft, als lebten sie in einer anderen, eigenen Welt
(daher der Name: griech. "autos" = "selbst").
Alle haben sie große Schwierigkeiten, das Denken und Empfinden Anderer wahrzunehmen, sich in sie hineinzuversetzen, das Verhalten anderer Menschen zu deuten und so darauf zu reagieren, wie es nicht Behinderte erwarten.
Darum erscheinen sie oft seltsam, unnahbar, egoistisch, arrogant, abweisend.
Etwa 50% der von Autismus Betroffenen sprechen nicht und viele haben keine Möglichkeit, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen.
Viele autistische Menschen scheinen, so weit sich das beurteilen lässt, auch geistig behindert zu sein, obgleich auch diese häufig erstaunliche Teilleistungen auf einzelnen Gebieten zeigen. Doch reicht das Intelligenzspektrum auch bei autistisch Behinderten von dort über die Normalbegabung bis hin zur Hochbegabung.
Gut begabte, fließend sprechende erwachsene Autisten haben geäußert, dass sie sich fühlen, als lebten sie wie Fremde auf einem unbekannten Planeten mit undurchschaubarer Kultur (“wrong planet syndrome”). Auch wenn sie sich nach Kontakten und Freundschaften sehnen, können sie diese Wünsche kaum adäquat äußern und bleiben daher oft einsam.

Ein autistisches Kind zu erziehen bedeutet eine schwierige Gratwanderung zwischen Fördern, Fordern und Überfordern.



Das Asperger Syndrom (ICD-10: F84.5) ist eine Form der autistischen Behinderung.
Im Gegensatz zu den Betroffenen mit "frühkindlichem" (Kanner-) Autismus verfügen solche mit Asperger Autismus über eine mindestens normale Intelligenz, teilweise eine intellektuelle Frühreife, sowie ein formal gutes Sprachvermögen bei zeitgerechter Sprachentwicklung. Sie sind imstande, den normalen Regel-Schulstoff kognitiv zu erfassen. Hingegen leiden sie stärker unter einer ausgeprägten motorischen Ungeschicklichkeit.
Es gibt zwei weitere Unterarten des Autismus, den High Functioning Autismus (Kanner-Symptome, aber mit normal hoher Intelligenz, entsprechend etwa der Figur des Rainman in dem bekannten Kinofilm mit Dustin Hoffman aus dem Jahr 1988) und den atypischen Autismus (in einzelnen Punkten von den anderen Formen abweichend).

Nach Prof. Dr. Dr. Remschmidt, Universität Marburg, äußert sich Asperger Autismus bereits im Vorschulalter besonders in einer ausgeprägten Kontakt- und Kommunikationsstörung. Diese bewirkt eine qualitative Beeinträchtigung des Interaktionsverhaltens, mangelndes Einfühlungsvermögen und ausgeprägte Sonderinteressen kombiniert mit motorischen Auffälligkeiten. Infolgedessen sind betroffene Kinder isoliert, ecken überall wegen ihres Verhaltens an und sind nur schwer schulisch zu fördern.
Als Ursache nimmt man genetische Faktoren an, vereint mit umschriebenen Hirnfunktionsstörungen und neurologischen Ausfällen, die bei normalem Intelligenzniveau auf eine Einschränkung im Bereich des nonverbalen Lernens hinwiesen. Dennoch lernen Kinder mit Asperger Syndrom recht früh und gut und vermögen sich sprachlich manchmal recht ungewöhnlich auszudrücken.
Daher wird das Asperger Syndrom oft erst spät als solches korrekt erkannt. Das Durchschnittsalter bei Diagnosestellung liegt bei etwa 10-12 Jahren, der frühkindliche Autismus wird hingegen meist bereits im Vorschulalter diagnostiziert.

Die veränderte Wahrnehmungsverarbeitung beeinträchtigt alle Lebensbereiche der Betroffenen.
Soziale Verhaltensweisen, "ungeschriebene" soziale Gesetze und Zusammenhänge, hierarchische Strukturen etc. erlernen sie nicht wie andere Kinder "nebenbei" durch Intuition und Nachahmung. Sie müssen sie einzeln verbal erklärt bekommen und sind dabei auf logische Schlussfolgerungen angewiesen.
Da nonverbale Signale wie Gestik, Mimik, Körpersprache, Blicke, Stimmlage usw. für autistische Menschen nicht korrekt entschlüsselbar sind, missdeuten sie oft die Gefühle und Intentionen anderer, fühlen sich in sozialen Situationen unsicher und verhalten sich darum anders, als es von ihnen erwartet wird.
Weil sie Gesichtern nur wenige Informationen entnehmen können, schauen sie in Gesprächen ihr Gegenüber oft nicht oder nur flüchtig an und scheinen daher desinteressiert oder aber sie starren es auffällig intensiv an, was wiederum aufdringlich wirken kann.
Sie haben Probleme mit ihrer Körperwahrnehmung, der Koordination ihrer Bewegungen, dem Abschätzen von Entfernungen und Geschwindigkeiten, so dass sie andere häufiger versehentlich anrempeln können oder den angemessenen Abstand zu Interaktionspartnern anders als üblich einschätzen.
Soziale Kontakte erleben sie als überaus kompliziert und anstrengend. Es kommt häufig zu Missverständnissen, auf die sie wiederum oft nicht adäquat reagieren, nämlich entweder zu heftig, oder verzögert oder gar nicht.
Auf geringfügig scheinende Anlässe können sie manchmal panisch oder hysterisch reagieren. Infolgedessen fürchten sie häufig, etwas “falsches” zu sagen oder zu tun. Dann reagieren sie oft lieber gar nicht, manche "kaspern" auch herum, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

Das Sprachniveau von Menschen mit Asperger Autismus ist hoch, ihre Intelligenz normal bis weit überdurchschnittlich. Sie haben meist ein recht gutes Gedächtnis.
Dennoch gibt es im Gebrauch und Verständnis von Sprache spezielle Probleme.
Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf Details führt dazu, dass sie oft das für andere Menschen Wesentliche einer Aussage nicht erkennen, den transportierten Inhalt nicht richtig erfassen, den Kontext nicht angemessen einbeziehen.
Schnell Gesprochenes verschwimmt in der Wahrnehmung autistischer Menschen oft zu einem "Geräuschebrei". Hintergrundgeräusche verstärken dies.
Sie können nicht zugleich zuhören und schreiben.
Sie nehmen vieles wortwörtlich auf, haben Probleme mit Mehrdeutigkeiten, mit subtilen Botschaften, mit Andeutungen und Redensarten. Auch können sie kaum "zwischen den Zeilen lesen", vertrauen blind auf das, was ihnen gesagt wird und erkennen Lügen und Manipulationen nur selten als solche.
Umgekehrt fällt es ihnen sehr schwer, ihre eigenen Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, obwohl sie gut sprechen können.

Dies alles erschwert das Verständnis und Kontaktaufnahmen zwischen ihnen und nicht Behinderten. Ihr fremdartiges Verhalten lässt sie oft zu Opfern von Ausgrenzung und/oder Mobbing werden.
Aufgrund ihrer hohen Intelligenz sind sich auch schon Kinder mit Asperger Syndrom ihrer Andersartigkeit meist schmerzlich bewusst, sie neigen daher stark zu Depressionen, welche zu völligem Rückzug oder Aggressivität führen können.
Häufig wird das Verhalten von Kindern mit Asperger Syndrom als "Nicht-Wollen", als Wunsch, im Mittelpunkt zu stehen, gar als Bösartigkeit missdeutet. Doch können sie manche selbstverständlich scheinenden Anforderungen aufgrund ihrer veränderten Wahrnehmungsverarbeitung tatsächlich nicht erfüllen, obwohl sie sehr gute Fähigkeiten im logischen Denken beweisen, nach hoher Genauigkeit und Perfektion streben, einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und eine absolute Wahrheitsliebe haben. Besonders auf dem Gebiet ihrer Spezialinteressen können sie jedoch enormes Wissen erwerben und hervorragende Leistungen erbringen.

Ihre Förderung erfordert das Anpassen der Anforderungen an ihre speziellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Hierbei ist es erfahrungsgemäß wichtig, sich vor allem den Stärken der Betroffenen zuzuwenden, welche über diese lernen können, ihre Schwächen teilweise zu kompensieren.

Wird auf die besonderen Schwierigkeiten in ihrer Förderung Rücksicht genommen, so können bei einfühlsamer Motivation und behutsamer Lenkung aus Kindern mit Asperger Syndrom im Erwachsenenalter sehr gewissenhaft und genau arbeitende Angestellte, hervorragende Wissenschaftler, Informatiker, Erfinder oder auch Künstler werden. In handwerklichen Berufen hingegen sind sie meist nicht gut aufgehoben, deshalb sind auch für schwer Betroffene Asperger Autisten “klassische” Angebote von Behindertenwerkstätten oder ähnlichem oft nicht geeignet.

Mit der richtigen Anleitung können sie soziale Verhaltensweisen über ihre ausgezeichneten logischen Fähigkeiten erlernen, statt sie wie andere Menschen "automatisch" zu verinnerlichen. Auf diesem Wege sind ihre Chancen, einmal einen für sie geeigneten Beruf ausüben und ein weitgehend eigenständiges Leben führen zu können, recht gut.

Aus diesem Grund ist die Kultusministerkonferenz im Sommer 2000 zu dem Ergebnis gekommen, dass Kinder mit Autismus an allen Schularten entsprechend ihrer kognitiven Fähigkeiten beschult werden sollen.
Dabei können sie, wenn erforderlich, durch einen Integrationshelfer unterstützt werden, eine über Eingliederungshilfe finanzierte Schulbegleitung, die auch die Aufgabe hat, zwischen ihnen und Mitschülern und Lehrern zu vermitteln, wenn es zu Missverständnissen kommt. Sie benötigen ein gutes soziales Klima.

Aufgrund ihrer Behinderung müssen die Leistungen autistischer Kinder meist anders beurteilt werden als die anderer Kinder, ähnlich wie man von einem Rollstuhlfahrer keinen Hindernislauf erwarten kann, dieser aber dennoch ein guter Sportler sein mag.
Dies kann bis hin zu einer Aussetzung der Benotung gehen.
Sie erhalten dann gegebenenfalls auch ein anders gestaltetes Zeugnis unter Beratung von Sonderpädagogen.

Der Schulbesuch bedeutet für sie generell erheblich mehr Stress als für nichtbehinderte Kinder. Diesen hohen Stresspegel müssen sie nachmittags zunächst reduzieren, was sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Darum und wegen ihrer motorischen Schwierigkeiten und weiterer auf dem Autismus beruhender Probleme benötigen sie oft deutlich mehr Zeit für die Bearbeitung von Aufgaben, sei es in der Schule oder zu Hause.
Deshalb ist häufig eine Reduktion der Quantität der ihnen gestellten Aufgaben erforderlich.
Das Ziel ist, ihnen zu ermöglichen, auf eine ihnen gemäße Weise möglichst viel Wissen zu erwerben, eine möglichst umfassende Bildung zu erhalten, gegebenenfalls auch ungeachtet etwaiger offizieller Schulabschlüsse. Denn dies ist die einzige Chance für sie, später eine berufliche Nische zu finden, damit sie möglichst ihren Lebensunterhalt einmal selbst verdienen können und nicht zeitlebens auf finanzielle Unterstützung durch die Gesellschaft angewiesen sein werden.


© Cornelia Rienks, Anf. 2004




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