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Mein Weg.
Manche Leute fragen sich, wie man das schafft: sich alleine um einen Menschen zu kümmern, der aufgrund einer Behinderung und/oder einer Erkrankung auf vielfältige und komplexe Weise gehandicapt ist.
Wenn dieser Mensch sich zudem ungewöhnlich oder für sie befremdlich verhält und/oder keinen festen Schlafrhythmus hat, denken oder sagen einige dieser Leute sogar:
Das kann man gar nicht schaffen!
Und sie machen sich deshalb Sorgen.
Um den Betroffenen und/oder um die Person, die sich um ihn kümmert.
Viele denken, dass es in solchen Situationen doch immer eine "Lösung" geben "muss". Irgendein Patentrezept, das man anwenden kann, damit alles "seine Ordnung" bekommt, die Dinge wieder so sind, "wie es sich gehört".
Manchmal gibt es aber keine solchen Lösungen.
Manchmal muss man diese Tatsache schlicht und einfach aushalten.
Manche erleben es jedoch als für sie nicht erträglich, wenn sie erfahren, dass es Menschen und/oder Lebenssituationen gibt, für die solche "bewährten Standard-Lösungs-Strickmuster nach Schema F" partout und definitiv nicht passen.
Möglicherweise erleben sie diese Beobachtung als bedrohlich, weil sie in ihnen tiefgreifende Ängste auslöst, dass auch sie - oder Angehörige von ihnen, die sie lieben - einmal in eine solche Lage geraten könnten.
Tatsächlich ist es ja auch wirklich so, dass jeder Mensch und auch jeder Angehörige eines jeden Menschen, so kerngesund er auch sein mag, jederzeit durch eine Krankheit oder durch einen Unfall zu einem zeitlebens schwer behinderten Menschen werden kann.
Und das durchaus nicht "nur" auf die Weise, dass man nach einer Querschnittlähmung den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzt, was ja die spontane Vorstellung ist, welche die meisten Menschen mit dem Begriff "Behinderung" verbinden. Wobei sie sich dann oftmals damit "trösten", dass man ja auch im Rollstuhl heute oft noch sehr mobil sein und Spaß am leben haben kann, wie man im Fernsehen doch regelmäßig gezeigt bekommt. Was manche derjenigen, denen das so nicht möglich ist, möglicherweise weniger spaßig finden werden, vielleicht, weil sie ständig starke Schmerzen haben oder weil ihre Lähmung gleich bei den Halswirbeln beginnt und somit auch ihr Oberkörper bewegungsunfähig ist.
Doch was oft nicht bedacht wird: Der "Rolli" ist ohnehin nur eine Möglichkeit von vielen, denn es gibt auch viele andere schwere Handicaps, die jeden sich bis dato gesund fühlenden Menschen jederzeit treffen können.
Viele davon haben auch Auswirkungen auf die Psyche oder können auf andere Menschen abschreckend oder beängstigend wirken.
Beispielsweise kann jeder Mensch Verbrennungsopfer werden und somit mit schweren Entstellungen auch im Gesicht fertig werden müssen. Grundsätzlich jeder Mensch kann eine schwere, langandauernde oder wiederholt auftretende Depression erleiden, die ihm jeden Lebensmut raubt. Jeder Mensch kann eine Epilepsie entwickeln. Jeder Mensch kann eine Psychose bekommen. Jeder Mensch kann ein schweres Trauma erleben. Jeder Mensch kann dement werden. Und so weiter und so fort.
Dieser Gedanke kann Angst machen.
Ich verstehe all diese Sorgen und Ängste sehr gut.
Darum möchte ich hier einmal veranschaulichen, warum und wie es möglich sein kann, auch unter sehr schwierigen und ungewöhnlichen Umständen ein zufriedenes Leben zu führen.
Ich greife dazu Passagen auf, die ich spontan in E-Mails formulierte, in denen ich Menschen antwortete, die sich auf diese Weise um mich und meinen Sohn sorgten. Ich habe sie für diesen Text nur geringfügig überarbeitet:
Ja. Ich habe mehr Stress und dafür weniger und unregelmäßigeren Schlaf als viele andere Menschen. Klar ist das so. Da gibt es nichts zu beschönigen. Ich bin jemand, der den Tatsachen ins Auge blickt, da kannst Du Dir sicher sein. So geht es allerdings durchaus auch anderen Menschen in ihrem Beruf oft - davon können beispielsweise viele Ärzte ein Lied singen! Man kann sich daran gewöhnen und ich nehme es gerne in Kauf.
Dennoch geht es mir gut, und das ist entscheidend.
Die Gedanken, die Du Dir dazu machst, machen sich auch viele andere Menschen seit vielen Jahren. Das ist doch ganz klar. Und natürlich mache ich sie mir auch selbst. :-)
Die Dinge sind aber wie sie sind.
Mein Leben ist nuneinmal anders als das der meisten anderen Menschen.
Mein Sohn ist ein Unikat. Er hat besondere Probleme und passt in kein Schema.
Er kann nichts dafür, ich auch nicht.
Er will zu Hause leben. Für ihn wäre es der blanke Horror, würde man ihn zwingen, in einer "Einrichtung" zu wohnen.
Also fällt die Wahl mir nicht schwer:
Ich werde ihn selbst betreuen, so lange er das möchte und ich dazu imstande bin.
Eine bessere Alternative gibt es nicht.
Was sich an unserem Leben verbessern lässt, habe ich längst verbessert und was sich nicht ändern lässt, lässt sich eben nicht ändern.
Ich habe die Wahl, daran zu zerbrechen oder das Beste daraus zu machen.
Da wähle ich doch lieber die zweite Variante. ;-)
Es ist alles immer - nicht nur, aber auch - eine Sache der Einstellung.
Ich habe meinen Weg gefunden, wie ich mit all dem zurecht komme.
Ich suche mir Nischen und Freiräume, wo sie sich bieten. So habe ich mich beispielsweise schon immer ehrenamtlich engagiert und mache das auch heute noch, nur auf andere Weise als früher, und zwar absolut flexibel hinsichtlich meiner Zeit, Stimmung und Energie dosierbar, indem ich seit vielen Jahren über diese Website und in Foren und per E-Mails anderen mit meinen Erfahrungen und meinem Rat helfe und seit mehreren Jahren auch, indem ich ein großes Epilepsie-Forum administriere. Das macht mir Freude und so knüpfe ich viele Kontakte, die mein Leben bereichern.
Ich achte auf mich weitaus besser, als ich das früher tat, bevor mein Sohn zur Welt kam.
Schon, damit ich die Kraft behalte, die notwendig ist, um diesen Weg zu gehen.
Natürlich hatte ich mir mein Leben ursprünglich anders vorgestellt. Aber es läuft eben nicht immer alles so, wie man es sich wünscht.
Das Leben ist kein Wunschkonzert.
Die Instrumente, auf denen man spielen darf, werden einem vorgegeben.
Nur die Melodie, die man daraus kreiert, kann man selbst beeinflussen.
Doch wenn man es wirklich will, kann man auch mit ungewöhnlichen, auf den ersten Blick unverständlichen oder zu schwierigen Instrumenten eine Musik schaffen, die einen innerlich befriedigt.
Man muss sich nur wirklich darauf einlassen, muss ideenreich werden und seine Phantasie benutzen, muss das Ganze flexibel aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten und nicht nur aus der gewohnten, muss andere, neue Ansätze suchen, wenn Hindernisse unüberwindlich und auch nicht zu umgehen sind.
Man darf den Mut nicht verlieren und muss versuchen, auf diese Weise seinen Horizont geduldig dort zu erweitern, wo sich einem Möglichkeiten dazu bieten, statt sich den Schädel einzurennen, weil man partout mit dem Kopf durch die Felswand will - nur weil bei allen anderen an dieser Stelle ja auch keine unendlich breite und ebenso hohe, senkrechte Wand aus unverwüstlichem Granit ist, sondern sich bei ihnen ein Weg zeigt.
Ein mühsamer Weg ist es vielleicht auch bei ihnen, einer, der über ein paar sehr steile Hügel hinweg führt. Versperrt ist er bei ihnen aber allenfalls von einer Geröllstrecke, einem Stacheldrahtzaun, einem Graben, über den eine wackelige Hängebrücke führt oder einer dichten Dornenhecke, die man jedoch mit ausreichend Mühe und ein paar Schrammen bewältigen kann.
Der Weg der meisten anderen ist auch nicht immer bequem, aber es ist ein Weg, der machbar ist, wenn man sich genug Mühe gibt und tapfer bleibt.
So, wie auch man selbst die Strecke bis hierher auf diese Weise bewältigen konnte.
Doch nun ist der Rest jenes Weges, den alle gehen, für einen selbst zuende.
Man selbst kann den anderen nicht auf ihrem Weg folgen, und die meisten von ihnen können das nicht verstehen, weil es bei ihnen keine solche Felswand gibt. Mag sein, dass man selbst sich die Existenz solcher Felswände vorher ebenfalls nicht vorstellen konnte. Doch sie existiert, und zwar unabänderlich.
Manche derjenigen, die bemerken, dass man dem "normalen" Weg nicht mehr folgt, machen einem Vorwürfe. Andere warten eine Weile und rufen einem gute Ratschläge zu, bevor sie weitergehen. Viele derer, die vorbeikommen, denken, man strenge sich nur nicht genug an, man lasse sich hängen. Oder man wolle nur Aufmerksamkeit erregen und sich wichtig machen.
Nur wenige glauben einem, dass es wirklich keine Möglichkeit gibt, den "normalen" Weg weiterzuverfolgen.
Aber die gibt es tatsächlich nicht.
Doch wenn man sich mit seiner Situation auseinandersetzt, merkt man mit etwas Glück, dass das nicht den Weltuntergang bedeutet. Man entdeckt einen neuen Weg für sich selbst, der einem sonst vielleicht verborgen geblieben wäre.
Eventuell kann man den Granit schön polieren, so dass sich die Sonne darin spiegelt und so auch in das auf den ersten Blick düstere Tal gelangt, in dem man sich befindet. Oder man kann Rillen oder Röhren wie Orgelpfeifen in dem Gestein finden und ihnen einen schönen Klang entlocken, den die anderen vielleicht sogar hören können und der ihnen auf ihrem weiteren Weg Trost spendet. Vielleicht entdeckt man auch Höhlen darin, die einem Schutz vor Gewittern bieten. Eine Grotte mit einer sprudelnden Quelle reinen Wassers und einem bezaubernden See. Eine Schlucht, die zwar nicht auf die andere Seite führt, in der aber schöne, duftende Blumen und anheimelnde Bäume mit leckeren Früchten wachsen, Schmetterlinge sich einem auf die Hand setzen und zutrauliche, hübsche Tiere ein Zuhause gefunden haben.
Man kann die Wand als unabänderlich akzeptieren und damit leben lernen.
Dann wächst man an dem, was einem zugewiesen wurde und kann Freude dabei empfinden.
So kann das Leben trotzdem schön sein. Komme, was da wolle.
Für ein zufriedenes Leben sind nach meiner Erfahrung zwei Faktoren besonders wichtig:
Erstens, dass man es für sich selbst als sinnvoll empfindet.
Zweitens, dass man sich nicht hilflos und ausgeliefert fühlt, sondern genügend eigene, ganz individuelle Gestaltungsspielräume behält.
Manchmal muss man um diese Gestaltungsspielräume auch zunächst kämpfen.
In besonderem Maße ist dies dann der Fall, wenn versucht wird, einen in als "normal" vorgegebene Standardschubladen zu zwängen, die einem jedoch nicht passen; wenn einem wohlmeinende Scheinlösungen übergestülpt werden sollen, die jedoch keine echten Lösungen sind; oder manchmal auch schon, wenn man einfach nur die Erwartungen anderer an das, was "man" tun "sollte", nicht erfüllen kann oder möchte, weil sie einem nicht entsprechen.
Auch ich habe für meinen Sohn und für mich gekämpft, wenn und soweit es sich als notwendig erwies, obgleich auch ich natürlich meine Zeit lieber auf angenehmere Weise verbringe als damit, zu kämpfen. Und ich werde dies bei Bedarf in gleicher Weise auch weiterhin tun, damit er ebenso wie ich und jeder andere Mensch ein möglichst weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kann, in dem er sich wohlfühlt.
Zum Glück fanden (und finden) sich immer wieder auch Menschen, die mir in diesem Kampf beistanden und Mut machten. Diesen möchte ich an dieser Stelle auch im Namen meines Sohnes von ganzem Herzen danken!
Das ist mein Weg. :-)
... Und ohne dass ich ihn gefunden hätte, hättest Du diese Worte nicht lesen können und Du hättest meine Trost spendenden Töne niemals gehört. ;-)
© Cornelia Rienks 2009
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