Die Eltern sind schuld!


Die meisten Eltern, deren Kinder ein sehr auffälliges Verhalten zeigen, werden allerorten mit dem Vorwurf konfrontiert, dieses Verhalten läge ganz bestimmt daran, dass die Eltern in irgendeiner Form Fehler gemacht hätten.
Dies ist in hohem Maße ungerecht. Die meisten Eltern beginnen ohnehin zuerst bei sich selbst nach Ursachen zu suchen, obgleich sie nicht mehr oder weniger Fehler machten und machen, als alle anderen Eltern "ganz normaler" Kinder auch.
Schlimm genug, wenn Laien so reagieren.
Doch da allzuoft auch gerade die "Fachleute" an welche sich verzweifelte Eltern um Hilfe wenden, mit solchen Pauschal-Schnellschüssen um sich werfen, möchte ich hier einmal verdeutlichen, warum dies ein gar zu einfaches Vorurteil ist.
Ich habe den folgenden Text im Austausch mit Eltern verfasst, die gerade wieder mit solchen Vorwürfen konfrontiert worden waren:





Ich bin es so leid, dass immer wieder gesagt wird, alles läge an der Erziehung:
zu inkonsistent / zu rigoros konsequent,
die emotionale Basis sei beeinträchtigt oder gar nicht vorhanden / die Eltern, vorzugsweise die Mutter sei(en) überbehütend und könne(n) nicht loslassen...

Besonders kurios ist ja, dass oft beide Gegensätze von ein und der selben Person in einem Atemzug als Vorwurf kommen... und zwar auch von angeblichen Fachpersonen.


Varianten dieses Spielchens gibt es in Hülle und Fülle, schon damit es universell einsetzbar und nicht gar zu offensichtlich ist:

1. Ist die Mutter berufstätig, vernachlässigt sie das Kind, ist sie es nicht, macht sie es unselbständig

2. Das gleiche System wird angewandt hinsichtlich der Kinderzahl,
Einzelkinder sind doch immer verwöhnt und verzogen, das ist doch allgemein bekannt! Und Geschwisterkinder leiden entsprechend an Nichtbeachtung oder daran, dass eines bevorzugt wird, oder an nicht verarbeiteten Eifersuchtsgefühlen, Auswahl gibt es da ja genug...

3. oder des Familienstandes
"vollständige Familie" bedeutet Rollenklischees oder Überbehütung oder Frust der Mutter wegen des Hausfrauendaseins oder Eheprobleme usw...
alleinerziehend bedeutet wahlweise Überforderung, Überbehütung oder bei Berufstätigkeit Vernachlässigung, abreagieren des sozialen Druckes am Kind, Unsicherheit wegen mangelnder Rollenvorbilder, Inkonsequenz wegen schlechtem Gewissen der Mutter, oder zu große Strenge um die Vaterlücke ausgleichen zu wollen (oder entsprechend die Lücke der Mutter), Verwirrung wegen wechselnder Betreuungspersonen oder zu starke Bindung und Symbiose zwischen Mutter und Kind oder zu wenig Kontakte zu Gleichaltrigen oder.....

4. oder der Vielzahl an "sozialen Kontakten" sprich Besuche im Freundeskreis zu viele oder zu wenige usw.

5. Hat die Familie viel Geld, wird das Kind automatisch zu sehr verwöhnt, hat sie keines, ist die Armut natürlich ein Umstand, der die Kinder zu dissozialem Verhalten führt.

6. Hat das Kind viel Spielzeug, so zeigt das automatisch, dass es an Zuwendung fehlt, und natürlich ist es von der Fülle überfordert, ganz gleich, ob alles offen herumliegt oder "unsichtbar" verstaut ist hat es wenig, so mangelt es selbstverständlich an ausreichender Anregung oder bei zu rigider "Verwaltung" des Spielzeuges oder Beschränkungen des Zugriffes dazu wird die Spontaneität des Kindes unterbunden, was sich natürlich ebenso auswirkt in fehlender Kreativität oder Zwängen oder Trotzverhalten oder

7. Hat das Kind viele Bücher, so wird es logischerweise stets zu kopflastig angesprochen, die emotionale Entwicklung wird vernachlässigt, hat es wenige, so wird es nicht ausreichend gefördert, das ist doch offensichtlich? Und wenn es sich dann noch selbst Lesen und Schreiben und Rechnen beibringen sollte, dann liegt das an der überzogenen Erwartungshaltung und dem Druck der Eltern, ist doch klar... Da reicht es schon, dass irgendwo Lektüre gleich welcher Art herumliegt, das Kind spürt den Aufforderungscharakter und sieht sich gezwungen, den Wünschen der Eltern entsprechend sich nur noch mit Lesenlernen zu beschäftigen, gibt es da irgendeinen Zweifel? Das MUSS doch zu Neurosen führen. Ebenso wie das Vorhandensein eines Schachcomputers, oder von Atlanten, Globen, Kreuzworträtselheften, Kartenspielen, was auch immer.

8. Und wenn es das alles gar nicht lernt? Gar das Sprechen verweigert? Das liegt selbstverständlich auch an den Eltern!!! Sie haben zu wenig mit dem Kind gesprochen, es emotional oder kognitiv vernachlässigt oder aber völlig überfordert und so die Verweigerung als Schutzreaktion ausgelöst...logo.

9. Darf das Kind fernsehen, gameboyspielen, einen Computer benutzen, so leidet es automatisch an Reizüberflutung und wird von Aggressionen gebeutelt, darf es das nicht oder wenig, so wird es von den Erfahrungen seiner Altersgenossen ausgeschlossen und zu weltfremd erzogen.

10. Darf es im Spiel herumtoben und sich schmutzig machen, bekommt es nicht genug Grenzen gesetzt, darf es das nicht, so werden ihm elementare Erfahrungen vorenthalten, die ein späteres Zwangsverhalten bewirken.

11. Muss es immer alles essen, was auf den Tisch kommt, dann ist das automatisch die Ursache für Übergewicht oder Bulimie oder Magersucht oder ... kann es essen was und wieviel es mag, bekommt es natürlich nicht genug Grenzen gesetzt... kein Wunder, wenn es sich nicht benehmen kann.


Gibt es irgendwelche Regelungen "in der goldenen Mitte", so ist das inkonsequent und das arme Kind wird völlig verwirrt. Und wenn es dann noch bei der Oma alles essen muss, aber zuhause auch Nachtisch bekommt, wenn der Teller nur halb leer ist oder umgekehrt...


JEDER Erziehungsstil kann positiv und negativ ausgelegt werden, wenn man nur flüchtig genug hinschaut.

Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt, Hauptsache es findet sich jemand, dem man die Schuld zuweisen kann, damit fleißig und teuer in diese Richtung therapiert werden kann. Und wenn solche Therapien keinen Erfolg haben, dann liegt das natürlich an inneren Blockaden des Therapierten, die es zu überwinden gilt. Oder daran, dass die Eltern das Bemühen durch ihre unterbewusste Verweigerungshaltung unterlaufen ... Damit die Kasse weiter klingelt. Wen interessiert, ob sich das Leben des Betroffenen dadurch verbessert?

Dass die meisten Eltern ein durchaus gesundes "Mittelmaß" wahren und dass eine "perfekte" Erziehung weder möglich noch sinnvoll ist, wird allzuoft ignoriert.


Wie sollte ein Kind lernen, mit der Unvollkommenheit der Welt zurechtzukommen, wenn alle Eltern IMMER alles optimal machten? Sie würden sich dem Kind als Übermenschen präsentieren und DAS würde tatsächlich zu emotional bedingten Problemen führen.

Und darüberhinaus... ich möchte die Familie sehen, in der es in der Verwandtschaft nirgendwo irgendeine "Leiche im Keller" gibt, die hervorragend als Ursache aller Probleme ausgeguckt werden könnte.

Wenn man bedenkt, welche Erziehungspraktiken früher allgemein üblich waren, dann ist es doch ganz natürlich, dass diese auch in der heute erziehenden Generation in irgendeiner Weise nachwirken. Wenn man fleißig genug sucht, findet man IMMER irgend etwas "Geeignetes".


Man sehe sich beispielsweise unseren [früheren] Bundeskanzler [Schröder] an:

Alleinerziehende Mutter, ärmliche Verhältnisse in der Kindheit, der Bruder noch heute arbeitslos... Und dann fragt er auch noch ganz offen nach Bier, wenn er "nur ein paar Autogramme" geben soll... und schon könnte man einen schwer beeinträchtigten Alkoholiker aus ihm stricken, wenn man böswillig wäre... beste Voraussetzungen um auf die schiefe Bahn zu geraten und schwere psychische Störungen zu entwickeln??? Wenn er tatsächlich eine solche Entwicklung genommen hätte, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Mutter als Sündenbock definiert worden.


Solche Schuldzuweisung ist nichts weiter als ein hilfloses aber vehement als "Diagnose" vertretenes Pauschalurteil, wenn eben solche Fachleute nicht weiterwissen, weil das Kind alle Standarderziehungsratschläge unterläuft.

Denn sonderbarerweise fällt solchen Experten meist nichts ein, wenn man sie nach konkreten Erziehungsratschlägen fragt, lediglich Allgemeinplätze. Und wenn diese nicht wirken, liegt es an der Unfähigkeit der Erziehenden. Womit man bequem den Kreislauf geschlossen hätte.
Alle Eltern hier können von diesen Praktiken wohl mehr als nur ein Liedchen singen...
Wie gut, dass es auch einige wirkliche Fachleute gibt... und wie traurig, dass diese so rar sind.


Bleibt zu ergänzen, dass es natürlich auch Eltern gibt, die sich tatsächlich nicht kümmern, aber diese bilden eindeutig die Ausnahme.



© Cornelia Rienks 2001





Weitere Texte von Eltern zu diesem Vorurteil finden Sie hier:
"Liebe Eltern ..."



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